Accueil

"Agir en juif, c'est chaque fois un nouveau départ sur une ancienne route" Abraham Heschel

Beth Hillel Beth Hillel Beth Hillel Beth Hillel

Dans La Presse

Frauen wollen mitgestalten

April 29, 2011 10:

Von Daniel Zuber, 29. April 2011

http://www.tachles.ch/frauen-wollen-mitgestalten

Eine Studie des Interreligiösen Think-Tank der Schweiz untersucht die Leitungsfunktionen von Frauen im Judentum, im Christentum und im Islam. Beleuchtet werden vor allem die Situation von Frauen bezüglich einer Gleichstellung innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften, ob und wie Frauen ihre Gemeinschaften mitgestalten können und welche Leitungsfunktionen und strukturellen Einflussmöglichkeiten ihnen offen stehen.

Mit der Studie «Leitungsfunktionen von Frauen im Judentum, im Christentum und im Islam» leistet der schweizerische Interreligiöse Think-Tank Pionierarbeit. Bisher existieren für die Schweiz keine vergleichbaren interreligiösen Untersuchungen. Dass in aktuellen politischen Debatten das Thema «Gleichstellung und Religion» vermehrt diskutiert wird und dabei häufig Unwissen, Halbwissen und Vorurteile zum Tragen kommen, war für die Wissenschaftlerinnen vom Interreligiösen Think-Tank Anlass, eine entsprechende Untersuchung anzugehen, so Doris Strahm, Projektleiterin der Studie. «Mit Fakten und einer differenzierten Darstellung der realen Situation von Frauen bezüglich Leitungs- und Gestaltungsmacht in ihren Religionsgemeinschaften wollen wir unter anderem zur Versachlichung der aufgeheizten Debatten um Frauenrechte und Religion
beitragen, die momentan ja vor allem den Islam im Visier haben und für politische Zwecke missbraucht werden», ergänzt Strahm gegenüber tachles.
Gabrielle Girau Pieck, eine der beiden Autorinnen, welche den Teil über das Judentum ausgearbeitet haben, erklärt, dass gerade im Umfeld der Minarett-Initiative auch vermehrt Stimmen aus feministischen Kreisen laut wurden, welche den Islam als frauenfeindlich brandmarkten und stigmatisierten. Die Studie sollte dazu ein Gegengewicht leisten. Die zweite Autorin des Teils über das Judentum, Eva Pruschy, fügt dem hinzu, dass die Studie auch innerreligiös Aufklärungsarbeit leisten soll: «Auch die Angehörigen der eigenen Religionsgemeinschaft haben oft vorgefasste Meinungen zur Frage der religiösen Leitungsfunktion von Frauen und kennen die historische Dimension und die aktuelle Lage und das Potenzial nicht genügend», so Pruschy

Blick auf das Judentum

Die Studie verfolgt ihre Fragestellung auf verschiedenen Ebenen. In historischer Perspektive wird jeweils beleuchtet, welche Leitungsfunktionen Frauen in der Frühzeit und im Verlauf der Geschichte innehatten und welche sie heute einnehmen können. Es wird dargelegt, wie Leitung in den drei Religionen theologisch begründet wird und was dies für den jeweiligen Zugang von Frauen zu religiösen Leitungsämtern und Einflussmöglichkeiten bedeutet. Der Fokus der Studie liegt auf der Situation in der Schweiz, die weltweite Situation wird jedoch ebenfalls umrissen.
Die Untersuchungen zum Judentum wurden von Gabrielle Girau Pieck, Reli-
gionswissenschaftlerin, freischaffende Theologin in den Bereichen Liberales Judentum und Interreligiöser Dialog sowie Mathematiklehrerin, zusammen mit der Judaistin Eva Pruschy, durchgeführt. Die Autorinnen kamen zum Ergebnis, dass die meisten kreativen Impulse zur Entwicklung der jüdischen Kultur und Religion die beiden grössten jüdischen Zentren – die USA und Israel – liefern. Die Frage nach der Stellung der Frau im Judentum stelle sich dabei als eine der brisantesten und aktuellsten, so die Autorinnen.
Der jüdischen Bevölkerung der Schweiz fehle hingegen die kritische Masse, um neue kulturelle und religiöse Akzente setzen zu können. Auch in der Schweiz werde jedoch die virulente Frage der Stellung der Frau im Judentum – insbesondere die Möglichkeiten für Frauen, Leitungsfunktionen übernehmen zu können – breit und kontrovers diskutiert. Dabei stehen die Fragen, ob Frauen religiöse Ämter übernehmen können und ob sie politische Ämter in der Gemeinde übernehmen dürfen, im Zentrum. Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich nach den religiösen Strömungen innerhalb des Judentums jedoch stark.

Die Situation in der Schweiz

Die orthodoxen Gemeinden der Schweiz gewähren Frauen weder die Möglichkeit, religiöse Führungspositionen übernehmen zu können, noch demokratische Mitspracherechte und Einflussmöglichkeiten innerhalb der Gemeindeorganisation. Gestützt wird diese Haltung durch einen mittelalterlichen religionsgesetzlichen Erlass. Es existieren zwar zeitgenössische orthodoxe Rechtsgelehrte, welche das Wahl- und Stimmrecht für Frauen unterstützen, in der Schweiz tritt dabei jedoch eine sehr konservative Haltung an den Tag. 
In Einheitsgemeinden nehmen die Frauen ebenfalls keine religiösen Ämter ein, auch wenn zeitgenössische modern-orthodoxe Rechtsgelehrte aufgrund ihrer Auslegung der Halacha einen gewissen Spielraum diesbezüglich gewähren und dieser in Israel und den USA auch ausgeschöpft wird. «Auch im modern-orthodoxen Mainstream geht die Tendenz in Richtung Bewahrung der Tradition. Progressive Kräfte stellen in der Schweiz eine marginale Minderheit dar», so die Autorinnen. Frauen haben jedoch alle politischen Rechte im Bezug auf die Gemeindeorganisation.
Innerhalb der liberalen Strömung der Schweiz haben Frauen vollen Zugang zu allen Leitungsfunktionen, es hat jedoch bisher in den beiden liberalen Schweizer Gemeinden noch keinen weiblichen Gemeinderabbiner gegeben. Frauen werden allerdings zur Thora aufgerufen, sie können den Gottesdienst leiten und sie haben alle politischen Rechte. Die verschiedenen unabhängigen progressiven Gruppierungen der Schweiz haben allesamt die Gleichberechtigung im Bezug auf Leitungsfunktionen vollumfänglich umgesetzt, sind demokratisch und egalitär strukturiert.

Vergleichbare Perspektive

Im römisch-katholischen Christentum sieht die Situation für Frauen ähnlich aus wie im orthodoxen Judentum. Auch hier werden Frauen aufgrund theologischer Begründungen von den religiösen Leitungsämtern ausgeschlossen. Im Reformierten Christentum sind heute jedoch Frauen auf allen kirchlichen Leitungsebenen gleichberechtigt und vermehrt auch in Leitungsämtern vertreten. Der Islam schliesst derweil in seinen Primärquellen Koran und Hadith Frauen nicht grundsätzlich von religiösen Leitungsfunktionen aus. Dieser theoretischen Offenheit steht jedoch die praktische Handhabung entgegen, mit welcher Frauen aufgrund überkommener Anschauungen und Mechanismen weitgehend von religiösen Leitungsfunktionen ausgeschlossen bleiben, so die Studie.
Die Autorinnen zeichnen ein sehr differenziertes Bild der aktuellen Leitungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten für Frauen innerhalb des Judentums, des Christentums und des Islams in der Schweiz. In einem abschliessenden Ausblick werden zudem Visionen und Möglichkeiten für die Zukunft formuliert. Das Schlusswort der Studie: «Immer mehr jüdische, christliche und muslimische Frauen brechen das Interpretationsmonopol der Männer in ihren Religionsgemeinschaften auf und legen die religiösen Quellen selber aus; sie wollen ihre Religionsgemeinschaften aktiv mitgestalten, ihre religiösen Erfahrungen und ihre fachliche Kompetenten einbringen und die Entwicklungen mit-bestimmen. Mit den Frauen wird (auch) in Zukunft zu rechnen sein.»    


www.interrelthinktank.ch